Vielen Dank an Franziska Körpert, die in der Auseinandersetzung mit der Thematik ADHS ein Buch von Cordula Neuhaus zusammenfasste und für die Veröffentlichung auf HeLv zur Verfügung stellte!
Die Autorin zeigt in dieser aktualisierten Auflage wie komplex und mannigfaltig die Symptomatik dieser psychiatrischen Störung sein kann. Erschwerend kommt noch dazu, dass zahlreiche ähnliche Verhaltensmuster bei Kindern auftreten können, die aber nicht auf ADHS (oft vererbt) zurückzuführen sind. Umso wichtiger ist also eine genaue Diagnose, um dem betreffenden Kind in richtiger Weise zu begegnen und mit auftretenden Problemen besser umgehen zu können.
Bevor ich nun auf die wichtigsten Details eingehe, möchte ich kurz meinen Gesamteindruck darstellen. Ich finde, es ist von äußerster Dringlichkeit, dass Lehrer, Erzieher und Eltern im Umgang mit ADHS-Patienten geschult werden, und unsere Gesellschaft diese Erkrankung akzeptiert. Da die Zahl der ADHS- diagnostizierten Schüler rapide zunimmt, sollte man vielleicht andenken, einen Beratungslehrer oder ADHS- Trainer pro Schulsprengel einzustellen, da bei diesen Kindern die sonst empfohlenen Erziehungsmaßnahmen nicht greifen und sogar kontra produktiv sind und manche Probleme verschärfen.
Cordula Neuhaus betont, die wirksamste Art der Konsequenz in der erfolgreichen Interaktion bei der Erziehung und im Coaching ist „liebevoll- stur“. Es bedarf einer speziellen Art der Kommunikation, da Verbote und Auseinandersetzungen ein „Jetzt-erst-recht“ bewirken. Ein ständiges Vorankündigen des erwünschten Verhaltens ist notwendig sowie das Vermeiden des direkten Augenkontakts im Konfliktfall! Kurze, präzise und sachliche Erwartungen in einem freundlichen Tonfall zu formulieren, funktioniert am besten. Man kann mit viel Verständnis für das Störungsbild, ausreichend Humor sowie der Bereitschaft, jeden Tag aufs Neue zu beginnen ein gutes Klima in der Familie, Kindergarten, Schule und Hort erreichen, wenn man für die Betroffenen genügend gelenkte Beschäftigungen und eine ausgewogene Tagesstrukturierung bereithält.
Auftretende Probleme haben bei ADHS einen biologischen Ursprung, und systemische und psychodynamische Ansätze in der Therapie greifen daher nicht. Leider ist das Thema Medikation in der Behandlung des ADHS trotz seriöser Aufklärungsarbeit mit vielen Vorurteilen und Ängsten besetzt. Methylphenidat, das am häufigsten verabreichte Medikament, wirkt regulierend auf die Botenstoffe Dopamin und Noradrenalin im Gehirn und führt bei den Betroffenen unter anderem dazu, dass
? das Abdriften und Wegträumen abnimmt,
? die Stimmung stabiler wird,
? die Frustrationstoleranz größer wird,
? die Beobachtungsgenauigkeit zunimmt,
? nicht sofort auf Ablenkreize reagiert werden muss,
? das Befolgen von Regeln leichter gelingt,
? und Leistungen zum Teil auffallend besser werden.
Methylphenidat ist in der Kinder- und Jugendpsychiatrie über 40 Jahre klinisch untersucht worden, und die tatsächlich auftretenden Nebenwirkungen sind gering. Es führt nicht zu psychischer oder physischer Abhängigkeit. Auch die Befürchtungen von Wachstums-verzögerungen oder –verminderungen werden durch Langzeitbeobachtungen widerlegt. Die individuelle Dosis- und Präparatfindung ist Sache des erfahrenen Arztes und gelingt am besten in guter Zusammenarbeit mit aufgeschlossenen Eltern und vor allem durch zur Mitarbeit bereiten Lehrern. Für einen ADHS- Schüler muss ein geeignetes Lernumfeld geschaffen werden, wie zum Beispiel:
in der Nähe des Lehrers sitzen
neben jemand ruhigen
nicht neben dem Fenster
kein Sitzplatzwechsel
nur die wesentlichen Lernunterlagen liegen auf dem Tisch
Kurzzeitwecker für Stillarbeitszeiten
Festsetzen der Lernerwartung für 1 Stunde
Festsetzen der benötigten Materialien
Festsetzen der Verhaltenserwartung (Hand heben)
Festsetzen von institutionalisierten Regeln: nur einer redet, die anderen schweigen, Stopp dem Antwortklau, wer ein richtiges Ergebnis hart, darf sich einen Punkt geben, nach der Unterrichtsstunde den Tisch abräumen, …
Der Weg zur Diagnosestellung ist lang und schwierig. Genaue Angaben bezüglich des Verhaltens des Kindes von Seiten der Eltern und Lehrer sind unbedingt erforderlich. ADHS- Betroffene nehmen „ anders“ wahr. Sie sind schnell frustriert, verletzt, irritiert, entmutigt, beunruhigt, können nicht warten und haben große Angst vor Neuem. Neue Forschungen zeigen, dass die Strukturen des Kleinhirns im Vergleich zu Nicht- Betroffenen kleiner sind. Eine diskrete Koordinationsstörung mit mangelhafter Rhythmisierung der Bewegung gehört ebenso dazu wie ein ständiges Unterstützen einer zielmotorischen Umsetzung durch die Augenbewegungen. Die klinische Erfahrung zeigt, dass Kinder mit ADHS die 8 – 18 fache Zeit für die Verautomatisierung von Regeln brauchen, und die sogenannte seelische Entwicklungsverzögerung ca. 30 % im Vergleich zu Gleichaltrigen beträgt.
Für betroffene Eltern sind die Vergleichstabellen über die psychomotorische Entwicklung, Sprachproduktion, Sprachverständnis und sensomotorische Entwicklung in den verschiedenen Altersphasen interessant. Ab dem 12. Lebensjahr entwickelt sich z. B. die Empathie für die Lebenssituation anderer nicht. Das abstrakt – logische Denken, Zukunft –orientiertes und räumlich – zeitliches Denken entwickeln sich deutlich verzögert, und Selbstevaluation ist realistisch nie möglich!
ADHS kommt leider selten allein. Oft stellen sich komorbide Störungen in der Auseinandersetzung mit dem gesamten Umfeld ein, wie z.B. Angst, Depression, Zwang, Ticks, Lern- und Teilleistungsstörungen, Einnässen, Schlafstörungen, schwere Störung des Sozialverhaltens, Sucht, Unfallrisiko und Asperger-Autismus.
Ist Vorbeugung möglich? JEIN. Vorbeugung ist der Entschluss nicht immer auf die alten „Schandtaten“ zu sprechen zu kommen, jedem Tag eine neue Chance zu geben und vorbeugend wirkt auch der Mut den Kontakt zu einer Selbsthilfegruppe aufzunehmen und eine kompetente Anlaufstelle zur Diagnose zu suchen.
Besonders hilfreich für noch Ungeübte im Umgang mit ADHS-Kindern empfinde ich das Überblickskapitel „Was ist ADHS nicht“. Es verbessert ungemein das Verständnis für diese Menschen:
Cordula Neuhaus, Diplom – Psychologin, Diplom – Heilpädagogin und Kinder/Jugend – Psychotherapeutin zeigt in diesem Ratgeber Strategien auf, die das Leben der „anders“ entwickelnden Betroffenen erleichtern, um Folgeschäden verhindern.