Von umgekehrter Schuld. Wie die Schuld in die Schuhe der Opfer kommen kann
Ihr Rock war zu kurz, ihr Ausschnitt zu tief. Und was hat sie zu dieser Uhrzeit überhaupt noch dort zu suchen? Sätze, die Betroffene von sexualisierter Gewalt häufig hören, wenn Sie öffentlich von Übergriffen berichten. Im Englischen spricht man von "Victim Blaming", im Deutschen haben sich die Begriffe "Schuldumkehr" und "Täter-Opfer-Umkehr" durchgesetzt, weil die Schuld sprichwörtlich bei Opfern anstatt bei Tätern gesucht wird. Mutmaßliche Täterinnen und Täter werden im Umkehrschluss häufig zu Opfern hochstilisiert, deren Ruf vermeintlich geschädigt werde - so geschehen etwa in der oberösterreichischen Gemeinde Scharten. Im Fall rund um den damaligen Bürgermeister wurde auch nach dessen rechtskräftiger Verurteilung im Vorjahr noch zur Solidaritätsbekundung aufgerufen - für den Täter, nicht für das Opfer.
Die Schuldumkehr taucht auch abseits von Sexualdelikten auf. Opfer von Trickbetrug werden nach dieser Logik als zu leichtgläubig und naiv bezeichnet. Geraten Nacktfotos in die falschen Hände, heißt es: hätte er oder sie die Fotos eben nicht aufgenommen. Und bei homophoben oder rassistischen Angriffen wird das Victim Blaming rasch zum Instrument zur Legitimierung von Homophobie und Rassismus. Nach dem Grundsatz "in dubio pro reo" ist das Strafrecht zugunsten der Angeklagten ausgelegt, doch das Phänomen der Schuldumkehr hat auch eine psychologische Komponente. Wer einem Opfer die Schuld in die Schuhe schiebt, schätzt die Wahrscheinlichkeit, selbst Opfer zu werden, geringer ein. Ganz nach dem Motto - weil ich selbst dies oder jenes nicht tue oder bin, kann mir das nicht passieren. Selbstbesänftigung auf Kosten der Betroffenen, deren Leid dadurch verstärkt wird.
"Moment am Sonntag" zeichnet den Umkehrweg der Schuld anhand des Falles in Scharten nach und hinterfragt, was die Täter-Opfer-Umkehr mit Opfern macht.
Regie: Lukas Tremetsberger