https://oe1.orf.at/programm/20210207#627541/Momentum-vor-5-Jahren-starb-Roger-Willemsen
"Der Moment selbst ist ja nur eine Zeiteinheit. Das was ich "Momentum" nenne, hängt mit dem englischen Wort "momentum-Impuls" zusammen: Das ist eigentlich der schöpferische Augenblick, der produktive, der Moment der Verdichtung, der Moment, in dem etwas geboren wird, überhell wird, der Moment, in dem ich empfinde, wie stark ich an meinem Leben hänge, der Moment der Daseinsbestätigung, der vitalen Erneuerung, der Überraschung. All das was hängen bleibt, was das amorphe Ich definiert, das würde ich "Momentum" nennen."
Am 7. Februar 2016 starb ein außergewöhnlicher Mensch: Roger Willemsen setzte sich mit dem Leben als ein Konglomerat aus Momenten, intensiven Augenblicken und Situationen auseinander. 1984 veröffentlichte Roger Willemsen sein erstes Buch, arbeitete dann als Universitätsdozent, Herausgeber, Übersetzer, Korrespondent, Moderator, Regisseur und Produzent fürs Fernsehen. Sowohl für seine Medienarbeit als auch für seine schriftstellerische Tätigkeit wurde er mehrfach ausgezeichnet. Als Vortragender und Lesender war er legendär: seine liebenswerte aber doch zutiefst hinterfragende Art sich mit der Welt und den ZeitgenossInnen auseinanderzusetzen, ist noch immer in Erinnerung. Gemeinsam mit Dieter Hildebrandt trat er als Kabarettist auf deutschsprachigen Bühnen in Erscheinung. Überdies war Roger Willemsen auch als Reisender auf allen fünf Erdteilen unterwegs, erforschte die Enden der Welt und durchstreifte nächtliche Städte. Er besuchte die interessantesten Menschen unserer Zeit an ungewöhnlichen Orten, reiste mit dem Zug durch Deutschland und entdeckte das Wesentliche im Alltäglichen und das Typische im Zufälligen, das Glück und Unglück des ganz normalen Lebens. Roger Willemsen begleitete eine afghanische Freundin auf ihrem Weg in die Heimat, in ein Afghanistan nur wenige Monate nachdem eine 25-jährige Kriegsgeschichte zu Ende gegangen war. Er sprach mit fünf ehemaligen Guantánamo-Häftlingen, die keine Terroristen, sondern Opfer der amerikanischen Politik waren. Roger Willemsen näherte sich der Welt mit großer Empathie und Achtsamkeit an. Daher maß er auch dem Moment, dem Augenblick eine so große Bedeutung zu. Denn die vielen bewusst wahrgenommen Eindrücke, Situationen, Momentaufnahmen verdichten das Leben, davon war Roger Willemsen überzeugt.
"In dieser Zeit besteht die Tendenz darin, das Leben ja nicht verpassen zu wollen und es dadurch zu beschleunigen, es effektiver zu machen. Indem wir das tun, verpassen wir es gerade. Denn all diese Beschleunigungselemente führen dazu, dass wir Doppelinformationskonsumenten werden, auf drei Displays gleichzeitig sind, Musik hören, dazu etwas schreiben aber auch noch ein Essen zu uns nehmen. Und am Ende sind wir nirgends gewesen." Der Versuch von Momentum ist: "Vergegenwärtigt Euch. Seid vollkommen in dem Moment, dieses Augenblicks. Verpass ich einen Augenblick, verpass ich alle!"