Ein kurzer Blick auf die Uhr zeigt, sie sollte eigentlich schon längst im Büro sein. Trotzdem, sie kann einfach nicht anders. Sie hastet die Stiegen hinauf, sperrt mit zittrigen Fingern die Wohnungstür auf und kontrolliert nochmals, ob der Herd auch wirklich ausgeschaltet ist - zum fünften Mal. Anderer Schauplatz, selbe Zeit: Ein Mann zählt auf dem Weg zur Arbeit jeden einzelnen Pflasterstein, auf den er tritt. Das verschafft ihm irgendwie ein Gefühl der Sicherheit.
Am Schreibtisch angekommen, ordnet er dann als erstes die Post - alphabetisch nach Datum und Name des Absenders. Zwei Stockwerke über ihm sitzt sein Vorgesetzter. Er schlürft wie jeden Morgen seinen Kaffee, wie jeden Morgen aus der blauen Tasse, der mit dem goldenen Schriftzug "Chef des Jahrhunderts". Und wie jeden Morgen überfliegt er dabei die Zeitung und kratzt sich auf der Nase, obwohl es ihn eigentlich gar nicht juckt.
Wir alle haben unsere Marotten, Alltagsrituale und Tics. Pathologisch werden diese erst, wenn sie beginnen unser Leben zu kontrollieren beziehungsweise zu belasten und wir den Alltag nach ihnen ausrichten. Zwangsstörungen können sich in Form von Obsessionen - also unerwünschten Gedanken - und/oder Handlungen äußern. Dabei ist das Spektrum schier unendlich groß.
Die meisten Zwangshandlungen beziehen sich laut dem Klassifikationssystem der Weltgesundheitsorganisation für medizinische Diagnosen "ICD-10" auf Reinlichkeit, etwa Händewaschen, und wiederholtes Kontrollieren von Dingen. Oft werden diese Tätigkeiten ausgeführt, weil der oder die Betroffen denkt, damit ein Unheil abwenden zu können. Unterdessen kehren die Gedanken immer wieder zum befürchteten Ereignis zurück. Die Spirale aus Grübeleien und Zwangshandlungen beginnt sich immer weiter zu drehen.
Von Tics spricht man, wenn Menschen unwillkürlich und ohne erkennbaren Grund Bewegungen ausführen oder Laute von sich geben. Das kann von Grimassen über Räuspern bis hin zu ausgestoßenen Schimpfwörtern reichen. Auch hier ist die Grenze zwischen gewöhnlich und pathologisch für den Laien oft schwer zu ziehen. Wenn die Tics äußerst komplexen Mustern folgen und in Kombination auftreten, kann es sich auch um das Tourette-Syndrom handeln.
Die Ursachen für derlei Verhaltensmuster oder Erkrankungsbilder sind vielfältig und führen manchmal erst in der Kombination zur Herausbildung eines Zwangs. Bei einigen Betroffenen spielen etwa genetische Faktoren eine Rolle, man hat familiäre Häufungen beobachtet. Allerdings wird der Habitus auch oft über die Erziehung weitergegeben.
Auch dem Stoffwechsel in unserem Gehirn kommt bei gewissen Formen eine Relevanz zu. Und nicht zuletzt können Erlebnisse und Traumata eine Zwangsstörung auslösen.
Indessen entwickelt auch so manches Tier Tics oder Zwänge. Bei Pferden etwa nennt man das "Weben", wenn sie ihren Kopf vor den Boxgitterstäben unentwegt hin und her bewegen.
Literatur:
Hans Reinecker: Ratgeber Zwangsstörungen. Informationen für Betroffene und Angehörige, Hogrefe Verlag 2016
Ulrike S. & Hans Reinecker: ABC für Zwangserkrankte. Tipps einer ehemals Betroffenen,
Vandenhoeck & Ruprecht-Verlag 2006
Hans Reinecker: Grundlagen der Verhaltenstherapie, Beltz-Verlag 2005
Martin Aigner, Ulrike Demal u.a.: Erfolg und Misserfolg bei der Behandlung von Zwangsstörungen. Eine Nachuntersuchung, in E. Bänninger-Huber, H.R. Bliem u.a. (Hrsg.): 6. Wissenschaftliche Tagung der Österreichischen Gesellschaft für Psychologie. Abstrakt Band STUDIA Innsbruck, S. 31
Wilhelm P. Hornung & Ulrich Terbrack: Zwänge überwinden. Ratgeber für Menschen mit Zwangsstörungen und deren Angehörige, Urban & Fischer Verlag 2004
Uttom Chowdhury: Tics und Tourette-Syndrom. Ein Handbuch für Fachleute und Eltern, Dgvt Verlag 2009
Daphne Ketter & Barbara Schneider: Verhaltensmedizin bei Hund und Katze. Ätiologie, Diagnose und Therapie von Verhaltensproblemen, Schattauer Verlag 2016
Sandra Winkler: Er nannte mich Fräulein Gaga. Macken, Ticks und meine Versuche, sie in 111 Tagen loszuwerden, S. Fischer Verlag 2013
Gregor Fauma: Unter Affen. Warum das Büro ein Dschungel ist, Goldegg Verlag 2016
Ferdinand Schmatz: Sinn & Sinne. Wiener Gruppe, Wiener Aktionismus und andere Wegbereiter, Sonderzahl Verlag 1992
Ferdinand Schmatz: Durchleuchtung. Ein wilder Roman aus Danja und Franz, Haymon Verlag 2007