Es ist die Situation wahrscheinlich sehr vielen Kolleginnen/Kollegen bekannt. Eine schwierige Schülerin/ein schwieriger Schüler reagiert auf eine winzige Veränderung unvorhersehbar massiv, springt auf, schreit, beschimpft jemanden, wird tätlich und ist nur schwer zu beruhigen (es gibt da alle möglichen Formen und Abstufungen).
Die gesamte Umgebung der Schülerin/des Schülers ist überrascht, betroffen, weiß nicht wirklich, wie mit der Situation umzugehen ist.
Der Hintergrund vieler aggressiver Verhaltensweise ist Verunsicherung, Gefährdung des kleinen Sicherheitsfeldes von Kindern/Jugendlichen, Eindringen in den kleinen kontrollierten Raum von Kindern/Jugendlichen (das ist übrigens bei Erwachsenen gleich). Dieses Eindringen kann das Hinlegen eines Arbeitsblattes, ein Ansprechen, ein Anschauen, ein ??? sein. Die Wahrnehmung des Kindes gerät aus (unerfindlichen) Gründen in einen Alarmzustand, das Kind/die/der Jugendliche empfindet eine Verletzung seines Intimraumes, seines kleinen Umfeldes, das sie/er überblicken kann.
Ein sehr großer Teil der Gesamtenergie, die diesem Mädchen/Burschen zur Verfügung steht, wird dazu verwendet, diesen Raum zu kontrollieren, zu überblicken, was passiert, um allfällige Bedrohungen umgehend abzuwenden. Dieses Abwenden, Zurückweisen, Abwehren erfolgt zumeist mit einem übersteigerten Maß an Aggression, um auch sicher wirksam zu sein.
Die betroffenen Kinder/Jugendlichen stecken zumeist in einem hochgradig bedrohenden Umfeld, erleben möglicherweise seit ihrer Geburt Unsicherheit als zentrales Element seiner Beziehungen. Oft ist die Beziehung zu Mutter belastet, der Vater nicht vorhanden und wenn mit erhöhtem Aggressionspotential, die Geschwister kämpfen um die geringe Zuwendung, die sie erhalten können. Das verdeutlicht, dass dieses Verhalten weniger Angriff als vielmehr Abwehr- und Schutzfunktion hat.
Anerkennt man also die Andersgestaltigkeit des Verhaltens des Kindes, kann man sein Verhalten u.U. anders/besser annehmen, vor allem aber dafür sorgen, dass der Arbeitsplatz betroffener Kinder/Jugendlicher anders aussieht, das Umfeld anders gestaltet ist und eine Kontaktaufnahme so erfolgt, dass das Kind/die/der Jugendliche von vornherein weiß, dass es/sie/er nicht bedroht ist.
Womit man vielen Kindern große Freude machen kann, nämlich den Unterricht mit viel Interaktion und Bewegung im Raum, Freiarbeit und offenen Phasen zu gestalten, ist für die betroffenen Schüler/innen eine exponentielle Vervielfachung der Bedrohungen und sie sind gerade in jenen Phasen, die man mit besonderem Aufwand und besonderer Liebe gestaltet hat, in besonderer Weise schwierig.
Man könnte in diesen "unruhigen", weil bewegten und den straffen Ordnungsrahmen verlassenden Unterrichtsphasen grundsätzlich auch ruhigere Plätze einplanen, die es Kindern, die mit dieser Unterrichtsform ihre Schwierigkeit haben, ermöglicht, sich "ihren" Platz zu suchen.
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